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Woher kommen wir und wer sind wir eigentlich – als Verein, als Fans oder Mitglieder des SV Darmstadt 98? Im zweiten Teil ihres Gastbeitrags über die DNA der Lilien beschreiben die Archivare und Vereinsschreiber, Jürgen Koch und Thomas Spengler, wie sich der Fußball in Darmstadt ausbreitete, was es mit der „Fußlümmelei im Watzeviertel“ auf sich hatte und wieso es SV Darmstadt 98 heißt, obwohl der Verein erst 1919 gegründet wurde:

Eine strenge Turnerbewegung

Wir müssen versuchen, uns diese Zeiten und die politischen Umstände vorzustellen, um das ganz besondere Umfeld unseres Vereins in dieser Zeit zu verstehen. Das damalige Deutsche Reich war ein Kaiserreich mit vielen Landesfürsten, ein geopolitischer Flickenteppich. In jedem der Länder gab es eigene Gesetze, und man war für die kulturelle Entwicklung vom Wohl und Wehe des Landesfürsten und seiner Führungseliten abhängig.

Der Kaiser hegte und pflegte seine Großmannssucht und seine Träume vom Mitspielen im Konzert der großen Nationen mit Kolonien und insbesondere mit militärischer Potenz. Dazu passte, dass die vor allem vom berühmten Turnvater Jahn initiierte Turnerbewegung (mit öffentlichen Turnveranstaltungen) die deutsche Jugend begeistern und letztlich für den Militärdienst ertüchtigen wollte. Eine konservative, strenge und körperbetonte Sportart entstand. Es ging nicht um Wettbewerb, sondern um die allgemeine Wehrertüchtigung – ganz im deutschen Sinne.

Überall diese Engländer

Nun kamen aber überall „diese Engländer“ mit der ihnen eigenen sportlichen Ansicht. Hier sollte Sport Spaß machen, sollten sich Mannschaften bilden, und es sollte gemessen, gewogen und gezählt werden. Richtige Ligen und Wettbewerbe sollten diese modernen Sportarten mit sich bringen. Konflikte waren vorprogrammiert. Aber diese Ballsportarten aus England und auch Frankreich wie Fußball, Tennis, Hockey oder ähnliches weckten schnell das Interesse der Jugend. Handball ist im Übrigen eine „echte“ deutsche Erfindung. Deutsche Länder mit liberalen, weltoffenen, Regenten waren der ab Beginn des 19. Jahrhunderts rasanten Entwicklung von Forschung, Technik, Politik und Kultur zugetan und lockten viele progressiv Gesinnte aus dem Ausland an.

In Darmstadt hatten wir Glück mit unseren Großherzögen, die nahezu allesamt weltoffen waren. Alleine, wie anfangs schon erwähnt, durch die Eheschließungen und dynastische Verbindungen ergaben sich viele Einflüsse aus dem Ausland. Zudem wurde 1877 die Hochschule (heute Technische Universität) gegründet, durch die in der Folge Studenten aus ganz Europa nach Darmstadt kamen.

Ensgraber

Die Ensgrabers – Pioniere des Fußballs in Darmstadt

„Fußlümmelei“ im Watzeviertel

Die Kinder der Familie Ensgraber, die am Schlossgartenplatz 10 wohnten, und deren Vater, der Professor Leopold Ensgraber, Lehrer am Alten Realgymnasium war, kamen durch die direkte und indirekte Nähe zur Hochschule schnell zu Kontakten mit diesen ausländischen Studenten die ihnen den Spaß am Fußball (von Konservativen gerne als „Engländerei“ und „Fußlümmelei“ diffamiert) beibrachten. Bevor auf dem Schloßgartenplatz die St.-Elisabeth-Kirche gebaut wurde, war das der ideale freie Platz zum „bolzen“. Zusammen mit Studenten und anderen Kindern aus dem Watzeviertel, wie die Darmstädter das Martinsviertel nennen, entstand letztlich eine Fußballmannschaft.

Um sich mit anderen messen zu können, beschloss die Familie Ensgraber dann am 22. Mai 1898 den FK Olympia 1898 Darmstadt zu gründen, dessen Mannschaft bereits früh aus einer Mischung von deutschen und ausländischen Spielern mehrerer europäischer Nationen bestand. Und es spielte – zu dieser Zeit eben nicht selbstverständlich – keine Rolle, welchen sozialen Stand diese hatten. Alle waren gleich in ihrem Ansinnen, Fußball spielen zu können und in Wettbewerbe einzutreten.

Die Arbeiterkinder rund um die Windmühle

Etwas westlich vom Schloßgartenplatz fingen die Kinder rund um die ehemalige Windmühle kurz darauf ebenfalls mit dem Fußballspiel an. Hier waren in der Mehrheit die Arbeiterkinder aktiv und es wurde später der SC Darmstadt 1905 gegründet, während bei FK Olympia eher bürgerliche Kinder und Gymnasiasten spielten. Beide Vereine spielten bis etwa Mitte des Ersten Weltkrieges als eigenständige Vereine.

Durch die Kriegseinsätze und die damit verbundenen menschlichen Tragödien verbanden sich beide Vereine zu Spielgemeinschaften, sprich Kriegsmannschaften. Die vormaligen Rivalitäten mussten ruhen. Nach Beendigung des Weltkriegs gab es wirtschaftliche Zwänge und ganz gewiss andere Prioritäten. Im Laufe des Jahres 1919 kam man in beiden Vereinen nach hitzigen Diskussionen zu der Erkenntnis, dass man die Erfahrung der Kriegsmannschaften nutzen und sich zusammenschließen sollte.

Eine Fusion ohne Zusätze

Grundlage dieser Fusion sollte sein, dass man einen gemeinsamen Sportplatz betreiben, dass er für alle Sportarten – beide Vereine waren Mehrspartenvereine – und für jedermann offen sein und keine sozialen Unterschiede gemacht werden sollen. Mit diesen Prämissen war eigentlich logisch, dass in der Vereinsbezeichnung nicht alleine der Fußball sondern der ganze Sport erkennbar und das Jahresdatum des älteren der beiden Vereine (was bei Vereinsfusionen üblich ist) sichtbar sein sollte. Ebenso legte man Wert darauf, die Heimatstadt ohne Zusätze wie Olympia hervorzuheben. Ergo entschloss man sich in der Gründungsversammlung am 11.11.1919 zur Fusion der beiden Vereine unter dem Namen SV Darmstadt 1898 e.V.

(Den ersten Teil unserer Serie über die DNA des SV Darmstadt 98 gibt es hier. Im dritten und letzten Teil geht es am Freitag unter anderem darum, wie der neue Verein zu einem Stadion kam, was das Besondere an der Sportstätte war und was das für die Gegenwart bedeutet.)

Bildquellen

  • 6 Ensgrabers_orig_eigenes Bild: Quelle: Vereinsarchiv SV Darmstadt 98
  • deoxyribonucleic-acid-3171255_1920: Reimund Bertrams/Pixabay

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