Seit einiger Zeit gibt es in den Kommentaren zu Lilienblog-Einträgen immer wieder ziemlich aufgeheizte Diskussionen. Ein treuer und sehr emotionaler Leser und Lilien-Fan empört sich dort regelmäßig über Phillip Tietz. Grund: Der Angreifer kam zu Saisonbeginn von Wehen Wiesbaden – einem Plastikverein, wie der Leser sagt. Und solche Klubs dürfe ein Verein wie der SV Darmstadt 98, der sich das Motto „Aus Tradition anders“ gegeben habe, nicht unterstützen. Auch wenn diese Argumentation hinten und vorne schief ist – die grundlegende Frage ist spannend: Was bedeutet Tradition heute eigentlich für einen Verein?
Zunächst aber doch ein paar Worte zu Tietz: Der ist gebürtiger Braunschweiger, stand bei Jena und Paderborn unter Vertrag, ehe er für zwei Jahre zum SVWW wechselte. Nach Vertragsende kam er im Sommer ablösefrei zu den Lilien. Es floss also kein Geld aus Darmstadt nach Wiesbaden für einen Spieler, der in bislang acht Spielen sechs Tore für die Lilien erzielt hat und sich damit als ziemlich wertvoll erwiesen hat. Auch ein Dominik Stroh-Engel kam vor Jahren vom SVWW. Ein Aytac Sulu hat 1899 Hoffenheim in seiner Vita stehen, und in grauen Drittliga-Zeiten fand ein Benjamin Baier sogar von RB Leipzig den Weg ans Böllenfalltor.
Zu glauben, dass man mit solchen, zudem meist ablösefreien Transfers einen Verein mit einem potenten Sponsor – egal ob Wasserfilter, Software oder Brause – ernsthaft unterstützt, ist absurd. Selbst die Millionentransfers von Nagelsmann, Upamecano und Sabitzer zum FC Bayern München haben RB Leipzig diese Saison geschwächt, weil sie die Abgänge bislang nicht ausgleichen konnten. Und einem Spieler den Vorwurf zu machen, es mal bei einem ambitionierten und gut zahlenden Verein versucht zu haben, hat schon Anklänge an Erbschuld und Sippenhaft.
Neid und Gekränktheit
Tradition spielt für Fans eine große Rolle. Aber dem Erfolg ist Tradition egal. Deswegen können Vereine wie Hoffenheim, Leipzig oder auch Leverkusen in der Bundesliga spielen. Und deswegen ist es möglich, dass der Hamburger SV und Werder Bremen in der 2. Liga spielen. Und deswegen sind ehemalige Bundesliga-Meister wie Eintracht Braunschweig, 1860 München und der 1. FC Kaiserslautern sogar drittklassig.
Oft schwingt in der Traditions-Diskussion Neid und Gekränktheit mit nach dem Motto: Wieso die Anderen, Neuen, wieso nicht wir? Besonders ausgeprägt ist das, wenn der eigene Verein sportlich gerade oder schon länger keinen Erfolg hat und sich mit einer verpfuschten Finanz- und Vereinspolitik selbst in die Bredouille gebracht hat – Beispiele im vorangegangenen Absatz.
Mit dem Motto „Aus Tradition anders“ hat der SV Darmstadt 98 die Messlatte hoch gelegt. Aber das Motto bedeutet weder dass man das System sprengen muss, noch dass alles so bleiben muss, wie es immer war. Die marode Betonschüssel, in der die Lilien-Spiele bis vor wenigen Jahren ausgetragen wurden, ist weitgehend verschwunden. Die neue Haupttribüne erhält Logen und weitere VIP-Plätze. Der Verein ist wie andere auf Sponsoreneinnahmen und Transfererlöse angewiesen. Und natürlich will man auch in Darmstadt die bestmöglichen Spieler für das bestmögliche Geld.
Ein ständiges Spannungsfeld
Auch wenn ein Verein anders sein will, bewegt er sich doch ständig im Spannungsfeld zwischen sportlichem Erfolgsdruck, wirtschaftlichen Zwängen und den Erwartungen der Fans. Nicht immer lässt sich alles unter einen Hut bringen – siehe etwa der Aufschrei vieler Anhänger wegen des nicht verlängerten Vertrags für den gebürtigen Darmstädter Yannick Stark vor eineinhalb Jahren oder auch die Kritik an der Personalpolitik im Sommer mit den Abgängen von Victor Palsson und Serdar Dursun.
Innerhalb des Systems Profifußball kann man aber durchaus anders sein, ohne sich komplett zu verweigern. Das fängt beim sozialen Engagement an, geht über die Positionierung bei politischen oder gesellschaftlichen Themen, umfasst die familiäre Atmosphäre, die viele neue Spieler zuletzt gerade in Darmstadt immer wieder gelobt haben und reicht bis zur Einbindung der Fans in viele Entscheidungen. Gerade Letzteres unterscheidet den SV Darmstadt 98 grundlegend von Vereinen wie Leipzig oder Hoffenheim.
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Bildquellen
- Fahne_Lilien: Pixabay