Wenn alles normal und geregelt läuft, beginnen Trainer und Spieler ihre Tätigkeit bei einem neuen Verein zum 1. Juli. Nach dieser Zeitrechnung ist an diesem Freitag, dem 8. Oktober, Zeit für die beliebten 100-Tage-Bilanzen.
Der Trainerwechsel in Darmstadt in diesem Sommer lief jedoch alles andere als geregelt ab. Schließlich war man eigentlich davon ausgegangen, dass man mit Markus Anfang in die neue Saison gehen würde. Doch der verließ die Lilien ziemlich plötzlich Anfang Juni Richtung Bremen.
Eine Woche später, am 8. Juni, wurde Torsten Lieberknecht als sein Nachfolger vorgestellt. Genau genommen ist Lieberknecht also am Freitag schon 122 Tage im Amt. Weil dieser Text schon einen Tag davor erscheint, sind es 121 Tage. Eine Zwischenbilanz kann man trotzdem ziehen – unter verschiedenen Gesichtspunkten.
Sportlich-tabellarisch
Bei Amtsantritt hatte Lieberknecht einen einstelligen Tabellenplatz zum Ziel ausgerufen. Mit Rang neun liegt man da aktuell noch im Soll. Doch kurz nach Lieberknechts Ansage traten Probleme auf, die Lieberknecht das Ziel etwas relativieren ließen: Eine schwierige Vorbereitung mit mehreren Verletzten, späten Neuzugängen, einem verschobenen Trainingslager und dann die Corona-Fälle sorgten dafür, dass die Mannschaft schlecht in die Saison kam. Es gab zwei Niederlagen in der Liga, dazu das Aus im Pokal gegen Drittligist 1860 München.
Mit dem 6:1 über Ingolstadt setzte die Mannschaft ein erstes großes Ausrufezeichen. Insgesamt ging es danach eher nach oben, wenn auch nicht ohne Rückschläge wie den beiden Niederlagen in Rostock und Heidenheim. Mit 13 Punkten liegen die Lilien derzeit vier Punkte hinter dem Aufstiegsrelegationsrang und sechs Punkte vor dem Abstiegsrelegationsrang. Sowohl nach oben wie nach unten kann es da in der Liga mit einer hohen Leistungsdichte sehr schnell gehen.
Bilanz: tendenziell noch ausbaufähig.
Spielerisch
Nach dem teils sehr anspruchsvollen bis komplizierten Spiel von Vorgänger Anfang, agiert die Mannschaft deutlich geradliniger. Das bisweilen halsbrecherische Klein-Klein in der Abwehr aus der vergangenen Saison hat Lieberknecht abgestellt. Es geht schnell und schnörkellos nach vorne. Lieberknecht bevorzugt ein 4-1-3-2- beziehungsweise 4-4-2-System.
Anders als seine Vorgänger Schuster, Grammozis und Anfang lässt er also erstmals seit Jahren konsequent mit zwei Stürmern spielen. Phillip Tietz und Luca Pfeiffer hatten vor der Saison keine großen Namen in der 2. Liga. Inzwischen sind sie ein Traum-Angriffs-Duo, trafen bereits 13 Mal. Mit 21 Treffern sind die Lilien derzeit die torgefährlichste Mannschaft der Liga.
Bei den Siegen über Ingolstadt und Sandhausen (jeweils 6:1) und über Hannover (4:0) bot das Team begeisternden Offensivfußball. Auch gegen das Spitzenteam Hamburger SV (2:2) spielte die Mannschaft stark, hätte eigentlich einen Sieg verdient gehabt. Und gegen Dresden erkämpfte sich das Team trotz langer Unterzahl ein 1:0.
Klammert man die ersten beiden Niederlagen gegen Regensburg und Karlsruhe wegen der stark ersatzgeschwächten Mannschaft einmal aus, bleiben noch die verlorenen Spiele gegen Rostock und Heidenheim. In beiden Partien nutzte die Mannschaft ihre frühen Chancen nicht, gab dann das Spiel aus der Hand, kam zwar zum Ausgleich und verlor am Ende doch durch individuelle Fehler und Unachtsamkeiten.
Bilanz: überwiegend positiv
Nachwuchs
Im Sommer verkündete der SV Darmstadt 98 ein neues Nachwuchskonzept, mit dem Spieler aus der eigenen Jugend besser bei den Profis integriert werden sollten. Dass dann schon so schnell so viele junge Spieler zum Einsatz kamen, lag vor allem am Personalengpass zu Saisonbeginn.
In Clemens Riedel hat sich jedoch ein U19-Spieler bei den Profis festgespielt. Er ist der erste Akteur aus dem eigenen Nachwuchs seit knapp einem Jahrzehnt, der es gleich mehrfach in die Startelf geschafft hat – auch wenn er zuletzt nicht mehr zum Einsatz kam.
Lieberknecht gilt als ein Trainer, der den Nachwuchs stets im Blick hat. Das zeigt sich auch an den regelmäßigen Förderkader-Spielen, in denen sich primär Akteure aus dem eigenen Nachwuchs zeigen können. In Braunschweig holte er zudem einst den heutigen Lilien-Angreifer Phillip Tietz zu den Profis.
Bilanz: positiv
Ansprache
Egal ob Stammspieler oder Reservist – Lieberknecht ist ein sehr kommunikativer Trainer. Immer wieder betont er, dass bei ihm kein Spieler außen vor ist. „Er lässt keinen links liegen, redet ständig mit allen Spielern und sucht auch das Einzelgespräch“, sagt auch Flügelspieler Benjamin Goller. „Er sagt, wie er die Situation einschätzt und dass jeder Spieler gebraucht wird. Das ist extrem wichtig gerade für die Spieler, die im Moment nicht so zum Zug kommen.“
Umgekehrt achtet Lieberknecht auch darauf, dass kein Spieler abhebt. Nachdem Phillip Tietz sich in Sandhausen mit technischen Mätzchen und Kabinettstückchen versuchte, nahm er sich den Spieler zur Seite. Und auch bei Luca Pfeiffer betont der Coach trotz aller Lobeshymnen, dass der Angreifer noch viel mehr könne.
„Insgesamt geht es mir darum, dass sich die Mannschaft als eine große Familie empfindet, die trotzdem auch Profisport betreibt“, sagt der Coach. „Ich bin jemand, der für seine Mannschaft durchs Feuer geht. Aber ich kann auch eine andere Art an den Tag legen, wenn ich bei Spielern das Gefühl habe, dass sie permanent angeschoben werden müssen.“
Lieberknechts Moderationsfähigkeit wird zunehmend gefragt sein, wenn in dem großen Kader (29 Spieler) wieder alle Spieler fit sind und es vermehrt zu Härten und Unzufriedenheit bei der Vergabe von Startelf- und Kaderplätzen kommen wird.
Bilanz: bislang positiv
Fans
Mit seiner bodenständigen und unverstellten Art kommt Lieberknecht bei den Fans gut an. Ein schönes Beispiel: Bei Amtsantritt schwärmte er vom Stadion-Lied „Die Sonne scheint“. Und nach dem Sieg über Ingolstadt sorgte er dafür, dass das Lied nach Abpfiff nochmals gespielt wurde.
„Ich sauge einen Klub direkt auf, eine Stadt, die Fans, Schwingungen – nur so habe ich Energie und brenne auch für die Sache“, sagt er über sich. Seit Jahren gab es am Böllenfalltor keinen Trainer mehr, der von den Fans mit Sprechchören gefeiert wurde.
Lieberknecht selbst gibt sich dabei sehr bescheiden, betont immer, dass die Mannschaft im Vordergrund stehe und sich den Applaus verdient habe. Nach dem Kantersieg in Sandhausen zierte er sich lange, ebenfalls zu den Fans in die Kurve zu gehen, machte das erst, als die Forderungen immer drängender wurden.
Bilanz: positiv
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Bildquellen
- M60-SVD-2021-22-pokal-blog-0026: Arthur Schönbein
- Trainingslager-svd-2021-22-blog-0002: Arthur Schönbein
- SVS-SVD-2021-22-0047: Arthur Schönbein
- SVD-FCH-2021-22-blog-0032: Arthur Schönbein