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Debakel und ein paar Sternstündchen des SV Darmstadt 98 – im zweiten Teil seines Gastbeitrags lässt Lilienblog-Leser Robert denkwürdige Spiele der vergangenen Saison Revue passieren, zieht ein zuversichtliches Fazit und schreibt einen Wunschzettel, obwohl noch nicht Weihnachten ist.

Nach dem Desaster bei Bayern München wurde Torwart Marcel Schuhen gefragt, wie er das Spiel erlebt habe, besonders in der zweiten Hälfte und angesichts des Resultats. Er antwortete, dass es zwar komisch klinge, aber er habe es genossen (Am Saisonende sagte er sogar, er habe die gesamte Runde genossen). Im selben Spiel kam Manuel Neuer nach mehr als 300 Tagen Verletzungspause zu seinem Comeback. Ob er den 8:0 Sieg mindestens genau so genoss, wie der Lilien-Keeper, ist leider nicht überliefert. Es ist aber wahrscheinlich.

Dabei hatte alles so gut für den SV Darmstadt 98 begonnen nach dem frühen Rot für Bayerns Joshua Kimmich und einer guten Gelegenheit durch Marvin Mehlem. Doch dann leistete Klaus Gjasula einen fast typischen, individuellen Beitrag zur höchsten Saisonniederlage, als er nach einer Notbremse im Zuge des VAR-Einschreitens Rot sah. Matej Maglica folgte ihm in der 41. Minute zum vorzeitigen Duschen in die Katakomben der Allianz-Arena. Maglica war bereits unberechtigt gegen Mönchengladbach von Platz geflogen, ebenfalls nach VAR-Intervention wegen eines nicht eindeutig nachweisbaren Handspiels.

Mitleid ist für Verlierer

Es waren solche derben Nackenschläge in der Frühphase einer Saison, die Trainer Torsten Lieberknecht in Pressekonferenzen tapfer und kontrolliert wegzumoderieren versuchte, freilich ohne das eigene Team in die Pfanne zu hauen. Im weiteren Verlauf fiel es immer schwerer, kein Mitleid mit dem Trainerteam zu empfinden. Aber Mitleid ist für Verlierer. Und diese kompetenten, aufopferungsvollen, sich maximal identifizierenden Männer sind keine Verlierer.

Sie hatten in den beiden Zweitligajahren eine komplexe, umsetzbare Spielidee entwickelt, die die Mannschaft einen nicht nur sehr ansehnlichen, sondern auch flexiblen Fußball spielen ließ. Wie das Team wurden die Coaches Opfer der Umstände, wenngleich sicher auch Fehler gemacht wurden. Die Schuld am Abstieg ist mehr der Mannschaft zuzuschreiben.

Am 10. Spieltag erlebten die Zuschauer bei einem Freitagabendspiel am Böllenfalltor ein insgesamt schwaches Match. Als in der Ruhrgebietsstadt lebender Exilhesse sei mir als Autor ein etwas ausführlicherer Blick auf diese Begegnung erlaubt. Fabian Holland sah die rote Karte. Goncalo Pacienca hätte spät wegen Nachtretens wie Holland von Schiedsrichter Marco Fritz des Platzes verwiesen gehört. Dass das nicht geschah, passte zum Spielverlauf. Der VfL gewann trotz eines spielerisch sparsamem Auftritts 2:1 und holte den ersten Auswärtssieg.

Einzig Takuma Asano stach bei Bochum heraus, der beide Treffer besorgte. Es soll nicht unterschlagen werden, dass das Tor der Lilien durch Nürnberger in der 43. Minute nach einer Verlagerung sehenswert herausgespielt war. Der VfL hatte bis zum neunten Spieltag acht Treffer auf der Habenseite, was die Abwehrschwäche Darmstadts an diesem Tag nicht nur andeutete, sondern untermauerte. Nach dem 0:8 in München wurden in zwei Spielen drei Mann der 98er des Platzes verwiesen.

Die Sternstündchen – oder nicht alles war schlecht

Sternstündchen waren das 2-2 gegen Frankfurt nach guter kämpferischer Leistung und Rückstand, dazu ein 2:1 Auswärtssieg gegen damals abstiegsreif auftretende Augsburg unmittelbar vor der Beurlaubung des Trainers Enrico Maaßen, ein Punkt beim Europapokalstarter Freiburg, das 2:2 in der Rückrunde in Bochum, als man ein scheinbar verlorenes Spiel noch in ein Remis drehte, auch, weil die Heimelf das Heft plötzlich aus der Hand gab.

Der einzige Heimsieg in der Partie gegen Werder Bremen nach 4-0 Führung und das vielleicht stärkste Spiel überhaupt beim 3:3 gegen die TSG 1899 Hoffenheim nach drei Rückständen waren zweifellos Höhepunkte, die dem in der Bundesliga sportlich geschundenen Verein und der Stadt guttaten . Das 3:3 gegen Gladbach muss man als ärgerlichen Ausrutscher abhaken, alles andere wäre realitätsfern nach diesem Spielverlauf und der 3:0-Führung.

Das 0:0 gegen Mainz passt nicht in die Kategorie Sternstündchen, da es ein von spielerischer Armut zersetzter, öder Kick beider Teams war. Wohl aber kann man das Hinspiel gegen die Filiale Ost aus Leipzig als Sternstündchen betiteln, da das Ergebnis die Kräfteverhältnisse nicht richtig widerspiegelte und man sich gegen den totalen Vereins-Gegenentwurf spürbar auflehnte.

Bei bloßer Betrachtung der fußballerischen und punktmäßigen Überlegenheit Leverkusens sollte das
0:2 im Rückspiel gegen den Meister auf jeden Fall eine fast Sternstunde gewesen sein, eine der „starken Niederlagen“. Nathan Tella, der beide Tore erzielte, überragte damals. Darmstadt kam in der ersten Hälfte zwei Mal durch Luca Pfeiffer und Oscar Vilhelmsson zu guten Torchancen, wehrte sich darüber hinaus beachtlich. Emir Karic köpfte in der 38. aus sechs Metern höchst aussichtsreich genau auf Keeper Lukas Hradecky.

Nicht nur im Leverkusen-Spiel gelang es den Gegnern die Defizite des Sportvereins viel öfter auszunutzen, als es in der zweiten Liga der Fall gewesen ist. Dies war vor Saisonbeginn in diesem Maß so nicht zu erwarten. Neben den anderen bereits genannten Gründen ist so das Zustandekommen von nur drei Siegen, davon lediglich einer vor fast immer beeindruckender Heinerkulisse am Böllenfalltor, zu erklären.

Im letzten Heimspiel der Saison gegen Hoffenheim ernteten die 98er dagegen im Verlauf der ersten Halbzeit Hohn und Spott. Die Leistung besonders im Defensivverhalten war zwar immerhin drittligareif, nach vorne ging jedoch viel zu wenig mit Ausnahme von Aaron Seydels aberkanntem Ehrentreffer kurz vor Schluss. Positiv gegen den Dorfverein aus dem Kraichgau war nur die Effektivität der Gäste.

Ein weiterer Wermutstropfen: Nürnberger verletzte sich Anfang der zweiten Halbzeit schwer an der Schulter und fällt mit einer Schulterverletzung Monate aus. Überhaupt: Mit allen erlittenen Blessuren seit Juli 23 ist der SV Darmstadt 98 wahrscheinlich einer der großen Geldgeber für das Darmstädter Gesundheitswesen. Da könnte man schon mal darüber nachdenken, ob man im Klinikum einen eigenen Gebäudeflügel für den Verein reserviert.

Geschlagen, frustriert und vernascht

Lieberknecht hatte eine Woche vor dem Hoffenheim-Debakel in der Pressekonferenz nach dem 0:3 in Wolfsburg noch gesagt, dass er froh sei, dass „es“ nun endlich bald vorbei sei. Was er damit tatsächlich meinte, wurde nicht nur nach der Blamage gegen den Hopp-Club zum erneuten Mal klar. Kein mental gesunder Anhänger konnte die von Präsident Rüdiger Fritsch genannte Bundesligatorte nach dem besiegelten Abstieg genießen, obwohl der Druck vermeintlich weg war. Die Kirsche hatten ohnehin schon andere Teams vernascht, für die Lilien blieben weder ein Klecks Sahne noch Punkte übrig.

Ein Highlight im negativen Sinn war die 2:3-Niederlage im Hinspiel gegen Heidenheim, als man eine Führung nach gutem Spiel aus der Hand gab. Obwohl die Stärke des Gegners bei Standards seit gefühlten Fußballewigkeiten bekannt war, konnten drei Gegentore nach eben diesen nicht verhindert werden.

Die Lilien konnten ihre körperliche Überlegenheit gegenüber vielen Konkurrenten bei eigenen Eckstößen während der kompletten Saison fast nie gewinnbringend ausspielen. Freistöße sind ein ähnliches Thema. Das defensive Zweikampfverhalten, gerade im entscheidenden letzten Drittel, reichte einfach nicht für die Eliteklasse. Einerseits kann man zugutehalten, dass Lieberknecht oft gezwungen war, die Kette umzustellen, andererseits wurde sie teilweise ohne Not umformiert. Die taktischen Überlegungen, die hierzu geführt haben dürften liegen für Außenstehenden freilich im Dunklen.

Trennung von Wehlmann war richtig

Die vorzeitige Trennung vom Sportlichen Leiter Carsten Wehlmann nach dessen fristgerechter Kündigung im Winter war richtig, selbst wenn er die Suche nach Leihspielern und durch die Aufgabenverteilung entstandene Nachteile erschwerte. Man stelle sich vor, welche Kritik auf den Verein und ihn herabgeregnet wäre, falls er die beinahe effektlosen Transfers in der Winterperiode zu verantworten gehabt oder nicht zustande gebracht hätte. Fraglich ist jedoch die These von Präsident Fritsch, der Geschasste hätte im Fall des Bleibens bis zum Vertragsende das nötige Herzblut vermissen lassen. Ich jedenfalls halte den Sportdirektor für einen Profi, der lange genug in Darmstadt war, um seine Aufgaben bis zum Schluss bestmöglich zu erfüllen.

Die letzten Hammerschläge auf gequälte Seelen 0:13 Tore in drei Spielen gegen Wolfsburg, Augsburg und Dortmund zum Abschluss der Runde sind nicht weniger als ein apokalyptisches Ende. Dies eine Kaskade des Schreckens zu nennen, würde die Wucht des Endgültigen nicht wirklich treffend beschreiben. Der BVB verkaufte sich beim 4:0 Heimsieg noch unter Wert, und es ist nicht klar, ob die Spannung für das bevorstehende Champions-League-Finale aufrechterhalten werden kam, da die Partie ab der etwa 30. Spielminute über weite Phasen einseitig lockeren Trainingsspielcharakter hatte.

Kein Vergleich zum 0:3 im Hinspiel, als Schwarz-Gelb (damals auf Rang sechs) gegen sich bissig wehrenden 98er zwei späte Treffer durch Marco Reus und Youssoufa Moukouku brauchte, um den Widerstand final zu brechen. Der Schlusspfiff am 34. Spieltage dürfte für viele, wenn nicht alle Akteure auf und neben dem Platz eine Erlösung gewesen sein.

Wünsche für die Zukunft, bitte nicht erst unterm Weihnachtsbaum

Der manchmal vielleicht etwas naive oder unkundige Schreiber dieser Zeilen wünscht sich, dass der Sportverein sich mit Robert Glatzel, der für eine festgeschriebene Ablöse in Höhe von 2,8 Millionen zu haben wäre, zumindest befasst, Haris Tabakovic von der kohlemäßig stark beeinträchtigten Hertha ein lukratives Angebot gemacht wird, dass vielleicht der sehr begabte Keke Topp aus Schalke als fortgeschrittener Perspektivspieler von deren Funktionärsamateuren befreit wird.

Dennis Dressel, ehemals bei TSV 1860 München heiß vom SV Darmstadt 98 umworben, konnte sich in einem fußballerisch schwierigen Rostocker Umfeld klar behaupten und war dort in zwei Saisons Stammspieler. Er könnte als 6er oder 8er zur Verstärkung werden, insbesondere unter dem Aspekt, dass die Verträge von Fabian Schnellhard und Klaus Gjasula auslaufen, Holland auf ungewisse Zeit ausfällt.

Einen schnellen und torgefährlichen Stürmer wie Rayan Philippe von Eintracht Braunschweig sollte man sich mit dem qualifizierten Blick von Profis zumindest genauer anschauen und dann entscheiden, ob er zur Mannschaft passen könnte (Fynn Lakenmacher und Luca Marseiler machen zwar Hoffnung, reichen aber nicht aus). Zu finanzieren muss dieser Spieler sein, denn nicht nur unsere zuweilen paralysierte Defensive gehört dringend mit Maß blutaufgefrischt. Andernfalls wäre die finanzielle Konkurrenzfähig des SVD auch in der zweiten Liga zu Recht anzuzweifeln. Nur mit vielversprechenden Hoffnungsträgern aus der dritten Liga wird der Sportverein die Erwartungen und Anforderungen wohl nicht erfüllen können.

Die Infrastruktur erfüllt die Erwartungen mittlerweile absolut, und es wäre ein Jammer, wenn die Equipe diesem nachstehen würde. Es gibt zudem nicht wenige Stimmen, die ein an das Erlebte angepasstes Umdenken in der Transferpolitik anmahnen, sich Änderungen wünschen.

Nicht nachzuvollziehen ist die Ausbootung Braydon Manus, ihm traue ich eine Rückkehr zu alter Stärke zu. Zudem ist er absoluter Sympathieträger. Schmerzlich ist der sich anbahnende Verlust des Leistungsträgers und des über viele Jahre treuen Marvin Mehlems. Hier gilt es, einen angemessenen Transfererlös zu erzielen, da der Kampf um ihn von außen betrachtet aussichtslos erscheint.

Das Fazit

Am Ende stehen 17 Punkte mit 30:86 Toren. Zur Einordnung : Schalke 04 beendete die Saison 20/21 mit 16 Punkten und 25:86 Toren, (ver-)brauchte fünf Trainer. Dabei haben die Gelsenkirchener ganz anderer Bedingungen als die Lilien. Trotzdem ist es frustrierend, schmerzhaft, dass der SV Darmstadt 98 zu den vier schlechtesten Absteigern aller Zeiten gehört.

Die Umstände trösten darüber ein wenig hinweg. Jedoch steht der Verein auf einem soliden Fundament, das Mut für die Zukunft machen sollte. Deswegen droht den Lilien auch nicht – wie von manchen Extrempessimisten befürchtet – das gleiche Schicksal wie Arminia Bielefeld, das am Ende sogar gegen den Abstieg in die Regionalliga kämpfen musste.

(Teil eins des Gastbeitrags findet ihr hier)

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Bildquellen

  • bvb-SVD-2023-24-combi-medien-0052: Arthur Schönbein

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